14. Salonnacht am 12. April 2019

ander(e)s leben

 

Einführung von Karin Nowak



 

Angelika Overath, Autorin

Alle Farben des Schnees

Jeder kennt Sehnsuchtsorte, weit weg von zu Hause, wo das Leben vielleicht ein anderes wäre. Aber die Stadtwohnung auflösen und in ein Schweizer Bergdorf ziehen, das man nur vom Urlaub kennt? Die Schriftstellerin Angelika Overath hat diesen Schritt mit ihrer Familie getan. In ihrem literarischen Tagebuch "Alle Farben des Schnees" schreibt sie vom Weggehen und Ankommen, vom Verlassen ausgetretener Denkpfade, vom Weiten des Horizonts und von Gemeinschaft, die Glück und Enge zugleich bedeuten kann. Und sie erzählt von Dorfbewohnern, die alles andere als hinterm Mond leben.

Die gebürtige Karlsruherin Angelika Overath lebt seit Jahren im Engadin. Sie lernte rätoromanisch und schreibt Lyrik in dieser fast vergessenen Sprache. Sie lehrt Literarisches Schreiben an der Journalistenschule in Luzern. Ihre Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2018 ihr Roman Ein Winter in Istanbul.


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Margret Rasfeld, Reformpädagogin

Schule neu denken 

Schule, das heißt für viele: 45 Minuten-Takt, Konkurrenzstreben, Noten und Lernen nach Lehrplan, aber ohne Eigeninitiative und genuines Interesse. Dass es auch anders geht, dass es gelingen kann, die angeborene Begeisterung, den Lernwillen und die Kreativität von Kindern und Jugendlichen zu erhalten und zu fördern, davon berichtet die ehemalige Schulleiterin Margret Rasfeld aus ihrer langjährigen pädagogischen Erfahrung. Sie plädiert für eine radikal neue Lernkultur, vielfältige Lernformate und eine wertschätzende Haltung im Schulleben. Grundlage einer solchen Schule sind Lob und Vertrauen statt Negativ-Auslese oder Gleichgültigkeit.

Margret Rasfeld leitete die Evangelische Schule Berlin Zentrum mit dem Anspruch, die Lernkultur grundlegend zu verändern.  Sie ist Mitbegründerin der bundesweiten Initiative „Schule im Aufbruch“ und gehörte zum Experten-Team im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin im Themenfeld „Wie wir lernen wollen“.


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Wolfgang Ertel, Mathematiker & Physiker

Künstliche Intelligenz - Die Zukunft unserer Gesellschaft?

Serviceroboter, Smart Homes und Robotertaxis werden unser Leben in wenigen Jahren stark verändern. Wolfgang Ertel, der seit 30 Jahren am Thema Künstliche Intelligenz (KI) arbeitet, wird über maschinelles Lernen, automatische Diagnosen in Technik und Medizin sowie über Serviceroboter für alte und behinderte Menschen berichten. Anhand spektakulärer Erfindungen wird er die neuesten Entwicklungen zur Kreativität in der KI vorstellen und aufzeigen, dass das faszinierende Zeitalter der Künstlichen Intelligenz und der autonomen Systeme längst begonnen hat. Ob diese Erfindungen (nur) zum Wohle der Menschheit beitragen, wird Thema der Diskussion mit dem Publikum sein.

Prof. Dr. Wolfgang Ertel ist Leiter des Instituts für Künstliche Intelligenz an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Er arbeitet an mehreren Forschungsprojekten über Assistenzroboter, lernfähige Maschinen und Diagnosesysteme und berät Firmen in Baden-Württemberg zu diesen Themen.


 

Pauline Roenneberg, Filmemacherin

Früher oder später

Die mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilmserie "früher oder später" lief 2018 im BR Fernsehen. Die Regisseurin und Drehbuchautorin Pauline Roenneberg zeigt eine Folge dieses einfühlsamen Porträts einer Dorfgemeinschaft in der Oberpfalz. Die Jungen ziehen weg in die Stadt, und wer zurückbleibt, muss die eingreifenden Veränderungen des Lebens auf dem Lande meistern. Als sich eine Kommune von Veganern im Ort ansiedelt, stoßen katholische Tradition und städtisch-alternatives Leben aufeinander. Und beide Seiten lernen, dass man auch „anders“ leben kann.

Nach einem Studium der Geschichte, Theaterwissenschaften und Literatur an der Ludwig-Maximilian-Universität in München studierte Pauline Roenneberg Dokumentarfilm und Regie an der Münchner HFF (Hochschule für Film und Fernsehen). "Früher oder später" ist ihr Diplomfilm.


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Stefan Bollmann, Autor

Frauen, die denken, sind gefährlich

Stefan Bollmann geht Denk- und Lebenswegen von Frauen nach, die sich, zumindest in den Augen ihrer Zeitgenossen, ungewöhnliche Freiheiten bei der Gestaltung ihres Lebens herausgenommen haben. Wieso wurden und werden solche Lebensentwürfe, die „anders“ sind, regelmäßig als Bedrohung der bestehenden Ordnung wahrgenommen? Warum sind Wissenschaftlerinnen wie die Verhaltensforscherin Jane Goodall, Journalistinnen wie  Anna Politkowskaja oder Politikerinnen von Margaret Thatcher bis Angela Merkel eigentlich gefährlich – und vor allem für wen?

Nach dem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften, Geschichte und Philosophie promovierte Stefan Bollmann über Thomas Mann. Er arbeitet als Autor, Lektor und Herausgeber. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter "Warum ein Leben ohne Goethe sinnlos ist" und "Monte Verità".


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Eckhart Nickel, Forscher

Hysteria

In einer Gesellschaft der nahen Zukunft setzt ein fundamentalistisches Regime alles daran, die Wunden zu heilen, die der Mensch der Erde zugefügt hat. Respekt vor der Natur, bis hin zur Unterordnung menschlicher Wünsche unter die Bedürfnisse von Pflanze und Tier, sind Teil der Ideologie. Doch „mit den Himbeeren stimmt etwas nicht“, erfährt der Leser gleich zu Beginn. Und das gilt nicht nur für die allzu roten Früchte, wie Bergheim, der Protagonist des Romans, mit wachsendem Grauen feststellen muss. Denn seine Nachforschungen führen ihn ins Herz einer scheinheiligen Ökodiktatur, in der nichts ist, wie es scheint.

Eckhart Nickel studierte Kunstgeschichte und Literatur und arbeitet seit vielen Jahren für  unterschiedliche Medien wie beispielsweise ARTE, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 erhielt er für "Hysteria" den Kelag-Preis. Der Roman stand 2018 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.


 

Marie Luise Knott, Autorin

Neue Denkwege und Dazwischenzeiten

In Zeiten allgemeiner Verunsicherung klammern Menschen sich gerne an die geistigen Errungenschaften der Vergangenheit. Was wiederum nicht selten die Verunsicherung vergrößert. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt, die sich zu den Zweiflern rechnete, hat sich dagegen eine spezifische Art von Verlernen zum  Programm gemacht, so die Essayistin Marie Luise Knott, um sich im Denken von der Wirklichkeit verunsichern und gleichzeitig immer neu inspirieren zu lassen.  Die Autorin liest aus ihrem Band Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt  und spricht über die „Dazwischenzeit“ der Weimarer Republik, in der man einige Parallelen zur heutigen Zeit finden kann.

Marie Luise Knott lebt als freie Autorin, Kritikerin, Herausgeberin und Übersetzerin in Berlin. Ihr Buch Verlernen. "Denkwege bei Hannah Arendt" wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien ihre Studie "Dazwischenzeiten. 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne".


 

Christian Dittloff, Autor

Das weiße Schloss

In einer nicht sehr fernen Zukunft - oder einer potenziellen Gegenwart? - entscheiden sich Ada und Yves für ein Kind, das ihr Leben als gebildetes, elitäres Paar vervollkommnen soll. Um ihre Karriere, ihre Paarbeziehungund nicht zuletzt die eigene Selbstverwirklichung nicht zu gefährden, entschließen sie sich zum "Outsourcen" der Mutterschaft. So hoffen sie, die Kontrolle über ihr ideales Leben zu behalten und den Anforderungen der Elternschaft gerecht zu werden: "Es wird ein großartiges Kind. Und immer wenn wir es besuchen, können wir es lieben." Und doch entgleitet dem Paar die Kontrolle immer mehr, wägrend ihr Kind im Körper einer fremden Frau im "Weißen Schloss" heranwächst.

Der gebürtige Hamburger studierte Germanistik und Anglistik und anschließend Literarisches Schreiben. Er arbeitet als Social Media-Manager für die Komische Oper Berlin. "Das weiße Schloss" ist sein Romandebüt.


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Jakob Hein, Autor

Kaltes Wasser

Als 1989 die Mauer fällt, eröffnen sich Friedrich, dem Sohn systemtreuer DDR-Bürger, ungeahnte Möglichkeiten. Während seine Eltern und Schulkameraden noch wie gelähmt sind von den Umwälzungen in ihrem Leben, verschafft er sich mit illegalem Geldwechsel von Ost- zu Westmark das Startkapital zum Durchstarten in der Marktwirtschaft. Und auch sein entspanntes Verhältnis zur Wahrheit steht einer Karriere durchaus nicht im Wege. Der vermeintlich naive Ossi wird so zum Prototyp des Westlers – der schließlich selber nicht mehr weiß, welches Leben das eigene ist.

Der Berliner Autor und Psychiater hat zahlreiche Romane, Drehbücher und Theaterstücke geschrieben, die sich durch subtilen Humor auszeichnen. „Nebenbei“ betreibt er eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie.



Rezension der Salonnacht in der Schwäbischen Zeitung:


Im Herzen der Stadt, im kleinen Sitzungssaal des Rathauses las Angelika Overath aus ihrem literarischen Tagebuch. (Foto: Maria Anna Blöchinger)

Die Natur stand im Zentrum des„Blauen Sessels“

Neun hervorragend ausgesuchte Kulturgrößen beleuchten das Motto  „anders leben“ der 14. philosophisch-literarischen Salonnacht

von Maria Anna Blöchinger

Die engagierte Bürgerinitiative „Im blauen Sessel“ hat am Freitagabend dem oberschwäbischen Kulturleben zum wiederholten Mal geistige Anregungen und einzigartige Begegnungen geschenkt. Die Salonnacht kredenzt lebendige Gespräche und berührende Geschichten. Schon der gemeinsame Auftakt im Humpisquartier in Ravensburg habe den Eintritt gelohnt, lobt eine Besucherin. Unter dem gläsernen Dach des Innenhofs im Museum Humpisquartier drängten sich die erwartungsfrohen Gäste. Begeistert applaudierten sie der brillanten Einführung von Karin Novak vom „Blauen Sessel“. Die selber erfahrene unentwegte Veränderung der Umwelt stand im Zentrum ihrer geistreichen Erörterung. Begleitet von Denkern und Dichtern wie Fontane, Nietzsche, und Rilke führte sie zur Einsicht, dass wir unser Leben gestalten müssen. Sabine Thor-Wiedemann stellte in bewundernswert lebendiger Gesprächsführung die neun Salon-Autoren vor. Autor Andreas Stichmann hatte leider absagen müssen. Den Roman „Das weiße Schloss“ fand Moderatorin Thor-Wiedemann erstaunlich kenntnisreich. Nein, er habe keine eigenen Kinder, sagte der Hamburger Autor Christian Dittloff. Eigentlich gehe es in seinem Roman um das Thema „Kinderwunsch“ und um die Idee von Mutterschaft als gut bezahltem Beruf. Marie Luise Knott erklärte die Bedeutung von Verlernen bei Hannah Arendt. Sie gäbe aber keine Anleitung für ein anderes Leben, warnte sie und bekam starken Applaus. Der fundamentalistisch-ökologische Gesellschaftsroman „Hysteria“ von Eckhart Nickel rief bei Moderatorin Thor-Wiedemann mit seinen „gruseligen Sachen“ starkes Unbehagen hervor, führte aber auch zu einem besonders erheiternden Gespräch mit dem Autor. Eigentlich für Männer geschrieben habe er sein Buch „Frauen, die denken, sind gefährlich“, erklärte Stefan Bollmann. Wolfgang Ertel, Leiter des Instituts für Künstliche Intelligenz an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, wusste, warum das Thema „Künstliche Intelligenz“ so aktuell ist. Der Forschung seien auf diesem Gebiet gerade revolutionäre Durchbrüche gelungen. Reformpädagogin Margret Rasfeld dagegen kämpft um Durchbrüche in der Lernkultur. Draußen war der Himmel noch hell. Vor den großzügig zur Verfügung gestellten Salons in der Marktstraße bildeten sich Menschentrauben. Im Herzen der Stadt, im kleinen Sitzungssaal des Rathauses las Angelika Overath aus ihrem literarischen Tagebuch „Alle Farben des Schnees“. Die Autorin war 2009 mit ihrer Familie von Tübingen in ein Engadiner Bergdorf gezogen, das sie vom Urlaub her kannten. „Alle Farben des Schnees“ handelt vom ersten Jahr in diesem anderen Leben, von der Sprache der Glocken, unzähligen Büchern und 200 Schafen. Mittels einer sinnlichen Sprache und eines verwundert distanzierten Blicks sucht das Buch wie viele Werke der preisgekrönten Autorin seinen Weg zwischen Roman und Reportage. Im Engadin habe es sechs Monate Schnee, erzählte sie. Wie Angelika Overath es gemacht habe, dass die Dorfbewohner sie akzeptierten, wollte man wissen. Overath antwortete, das Engadiner Bergdorf sei von Zugereisten geprägt und so gehörten hier „die Fremden immer schon zum Eigenen“. Sie sagte, bei ihren Lesern sei „Alle Farben des Schnees“ als Ermutigungsbuch angekommen. „Aber ist es nicht auch mutig weiterzuleben, wie man lebt?“ gab sie zu Bedenken. Von einem urbäuerlichen Weiterleben erzählt Pauline Roenneberg in ihrem Dokumentarfilm „Früher oder später“. Im Museum Ravensburger zeigte sie den ersten Teil von vier an die Jahreszeiten angelehnten Episoden. Die Zuschauer sahen starke Bilder winterlichen Dorflebens, ein neugeborenes Kalb, Osterfeuer. Um weiter mit ihren Kühen und der Landwirtschaft leben zu können, werden die Bauern Bestatter. Die Bäuerin telefoniert mit den Kunden, der Bauer hebt Gräber aus. Der Dorf-Chor singt. Die Kamera betrachtet. Sie bewegt sich so nah bei den Menschen, dass kein Raum für einen beurteilenden Blick bleibt. Als Kontrast erscheint die vegane Alternativkommune von Freiberuflern, Grafikern und Coaches, die ein leerstehendes Gebäude mieten, das Landleben theoretisieren und romantisieren, aber auch im Dorf-Chor mitsingen. Anfangs hatte sie für eine Dokumentation nur eine Bestatter-Familie gesucht, erzählte Pauline Roenneberg dem interessierten Publikum. Sie fand das Ehepaar Ernst und Roswitha, gewann ihr Vertrauen und begleitet sie filmisch während vier Jahren. Die Aprilnacht war angenehm frisch. Sicher nahmen manche Besucher die Anregung für ein anderes Leben mit.